Jeder Mensch ist eine Menschenmenge

In seinem Modell der Psychosynthese, das er im 20. Jahrhundert entwickelt hat, geht der italie­nische Arzt und Psychiater Roberto Assagioli davon aus, dass wir in uns eine grosse Zahl an Teilpersönlichkeiten haben. Einige davon kennen wir gut, mögen sie mehr oder weniger, andere wollen wir gar nicht kennen, lehnen sie ab und unterdrücken sie und weitere sind verdrängt im Unbewussten. Psychosynthese ist ein transpersonales Modell zur Begleitung von Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und der Entfaltung ihres Potenzials.

 

Stellen Sie sich vor, Sie halten ein Referat. Sie stehen vor einer Gruppe Menschen, die von Ihnen eine fundierte Abhandlung über ein bestimmtes Thema erwarten. Sie haben sorgfältig recherchiert und einen ansprechenden Vortrag zusammengestellt. Die Stichworte liegen vor Ihnen, die Folien auch, den Hellraumprojektor haben Sie auf sein Funktionieren getestet. Auf einmal bricht Ihnen der Schweiss aus, die Knie zittern, der Magen flattert, Sie werden rot und bleich und sind überzeugt, sich an kein einziges Wort Ihres gut vorbereiteten Textes mehr zu erinnern.

 

In dieser Situation liegt die Annahme nahe, dass Sie nicht in der adäquaten Teilpersönlichkeit sind, um diese Aufgabe zu erfüllen. Es ist möglich, dass Sie sich im "schüchternen, liebebedürf­tigen Kind" befinden. Dessen Bedürfnis ist es, Sicherheit, Nahrung, Zärtlichkeit und bedin­gungslose Liebe zu erhalten. Sicher nicht etwas, was Sie als ReferentIn von einer Zuhörer­schaft erwarten dürfen. Was hier geschehen ist, passiert meistens unbewusst, und deshalb fühlen wir uns in solchen Situationen auch oft ausgeliefert und ohnmächtig. Wenn wir uns je­doch bewusst werden, dass wir mehrere Teile haben und auch bereit sind, diese kennen zu lernen, können wir sie mehr und mehr in unser Leben integrieren und je nach Situation adäquat einsetzen. Wir werden dann nicht von ihnen gesteuert, sondern wir steuern die verschiedenen Teile in uns.

 

Wir können die Schar der Teilpersönlichkeiten, aus denen wir bestehen, auch unser Orchester nennen. Jedes Instrument hat seine Qualitäten, seine Stärken und Schwächen. Jedes Instru­ment will zum Einsatz kommen. Genauso wie es nicht angebracht ist, in einer Pianissimo-Stelle der Partitur die Pauken oder Zimbalen einzusetzen, so unpassend ist es auch, z.B. unsere in­nere Kriegerin zu benutzen, wenn es darum geht, geschickte Verhandlungen zu führen. Die adäquate Teilpersönlichkeit wird in dieser Situation wohl eher die innere Diplomatin sein. Mit der Zeit und durch Schulung unserer Teilpersönlichkeiten werden wir dann sogar entdecken, dass auch die innere Kriegerin in Verhandlungen eingesetzt werden kann, nämlich dann, wenn Durchsetzungskraft verlangt wird, was eine der innersten Qualitäten der Kriegerin ist; nur kommt sie oft nicht in ihrer reinen, sondern in etwas verzerrter Form zum Ausdruck. Es ist wich­tig zu betonen, dass jede Teilpersönlichkeit ihre Berechtigung in unserem Leben hat, auch wenn wir einige davon zunächst überhaupt nicht mögen oder sogar nicht einmal kennen.

 

Um zu unserem Beispiel zurückzukehren: Auch das Innere Kind hat selbstverständlich seinen Platz in unserem Leben. Es repräsentiert unter anderem unsere Gefühlsseite, die Kreativität, das Spielerische, das Spontane. Und es gibt eben Situationen, in denen das Innere Kind als Teilpersönlichkeit nicht am richtigen Platz ist, z.B. beim Halten eines Referats. Hier wird es dienlich sein, ganz bewusst in die Rolle des Referenten zu steigen. Das ist eine erwachsene Teilpersönlichkeit, die vertraut ist mit der vorzutragenden Materie, die sich gut auf den Vortrag vorbereitet hat und auch fähig ist, diesen zu halten. Diese Teilpersönlichkeit wird sich auch von einem Versprecher oder von einer verkehrt aufgelegten Folie nicht aus der Ruhe bringen las­sen, sondern dies allenfalls mit einer humorvollen Bemerkung kommentieren. Sie muss ja vom Auditorium nicht geliebt werden, sondern möchte mit ihrem Vortrag die Zuhörerinnen anspre­chen und mit ihrem Thema deren Interesse wecken. Es braucht eine gewisse Übung, bewusst von einer Teilpersönlichkeit in die andere zu steigen, und mit der Zeit fällt es immer leichter. Diese Methode von Assagioli kann unser Leben sehr bereichern. Jede neue Teilpersönlichkeit, die wir kennen und mit der Zeit auch annehmen lernen, beschert uns mehr Fülle, mehr Mög­lichkeiten, mehr Wahlfreiheit.

 


Wie können wir denn die Teilpersönlichkeiten adäquat einsetzen?

Zu einem Orchester gehört natürlich auch eine Dirigentin. Im Modell der Psychosynthese ist die Dirigentin das Ich. Das Ich ist ein wertfreier, unzerstörbarer, Ort in uns, von wo aus wir wählen können. Ziel der Psychosynthese ist es, ein starkes Ich zu entwickeln (nicht zu verwechseln mit dem Ego, das eine Teilpersönlichkeit ist). Ein starkes Ich ist ein Zentrum von Bewusstheit und Wille. Bewusstheit bedeutet hier, sich überhaupt bewusst zu werden, wie viele Teile ich in mir habe, wie ich mit ihnen lebe und vor allem auch, was ich mit ihnen in meinem Umfeld auslöse. Das kann ein spannender, z.T. erstaunlicher und manchmal auch schmerzhafter Prozess sein. Damit das Ich sich der Teile und des Geschehens bewusst werden kann, ist ihm ein neutraler Beobachter zur Seite gestellt. Die wertfreie Dimension ist sehr wichtig. Es geht nicht darum zu­zuschauen, wie "blöd" wir uns in einigen Situationen benehmen, sondern es geht um neutrale Wahrnehmung und Beobachtung. Nicht mit einem kritischen Blick, – den kennen wir alle zur Genüge und sind Meister darin – sondern in Form eines liebevollen und annehmenden Beobachtens. Die Teile in uns, die wir nicht mögen (wer sagt schon gern von sich, er sei eifersüch­tig, neidisch, aggressiv, fordernd) haben alle ein Bedürfnis, das es zu erkennen und im inners­ten Kern eine Qualität, die es zu entdecken gilt.

 

Die ungeliebten oder unbewussten Teile in uns – die nicht beachteten Spieler und Instrumente in unserem Orchester – agieren trotzdem, auch wenn wir sie ablehnen, verdrängen oder gar nicht wissen, dass es sie gibt. Es kann sein, dass wir sie auf andere Menschen projizieren und sie uns dann als Schattenthemen von diesen gespiegelt werden. Es kann auch sein, dass sie sich in Form von Symptomen oder Krankheiten gegen uns richten. All dies im Bemühen, unsere Aufmerksamkeit zu erlangen, uns dazu zu bringen, ihnen Beachtung zu schenken.

 

Wir projizieren interessanterweise nicht nur unsere ungeliebten Teile auf andere, das tun wir auch mit Qualitäten, die uns positiv erscheinen, die wir uns selber jedoch gar nicht zutrauen. Wir machen dann Menschen um uns herum zu Idolen, wir bewundern sie, stellen sie auf einen Sockel, ohne uns bewusst zu sein, dass die Qualitäten, die wir an ihnen bewundern, in uns auch stecken und gelebt werden möchten, wenn wir uns nur für sie entscheiden würden. Alles was wir an anderen beobachten, ist auch in uns.

 

Die nächste Stufe nach der Bewusstwerdung ist die Wahl. Hierzu benötigen wir unseren Willen. Ein grosser Teil der Arbeit an uns selber im Modell von Roberto Assagioli beinhaltet die Schulung des Willens. Ein Wort, das bei uns sicher heute mit ziemlichen Verzerrungen besetzt ist: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg." "Du musst Dich nur zusammennehmen, dann geht das schon." Das meint Assagioli nicht damit. Assagioli spricht vom freien Willen, den wir nicht mit zusammengeklemmten Hinterbacken und Zähneknirschen einsetzen, sondern mit Heiterkeit und Gelassenheit, im Wissen, dass wir jederzeit die Wahl haben. Auch wenn uns eine Situation ausweglos erscheint, haben wir doch die Wahl zu entscheiden, was wir aus ihr machen, ob wir uns ins Opfer begeben oder ob wir bereit sind, das Geschenk darin zu sehen. Aus dem starken Ich werden wir wählen, welche Teilpersönlichkeit wir in welcher Situation zum Einsatz bringen, welcher Teil für die Absicht und das Ziel, das wir erreichen wollen, am dienlichsten ist, für uns, für die anderen, für das Grössere Ganze.

 

Die Autorin, Frau Santoshi Marti, hat im Zentrum von Bern eine eigene Praxis. Sie ist ausge­bildete Psychosynthese-Therapeutin, Psychologische Astrologin und Körpertherapeutin. Sie arbeitet mit KlientInnen in Einzelsitzungen an deren Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwick­lung und unterstützt sie im Entdecken des eigenen Potenzials. Dazu verwendet sie u.a. Ar­beitsinstrumente wie Gespräch, Prozessarbeit, Imagination, Rollenspiele und Körperarbeit. Ein zentraler Punkt ist die Wahrnehmungsschulung auf den drei Ebenen Körper, Gefühl und Verstand.

Praxistätigkeit seit 1991, laufend eigene Weiterbildung und Supervision. Vorträge über Psycho­synthese.

Zusätzliche spezielle Interessengebiete: Partnerastrologie, Arbeit mit KlientInnen mit Überge­wicht, Ess-Sucht (u.a. mit Methoden der Körperwahrnehmungsschulung, einzeln und in Grup­pen).

Praxis Santoshi Marti: Neuengasse 20, 3011 Bern, 079 537 49 80, praxis@santoshi.ch

 

Publiziert im Mai 2005

in der Zeitschrift TREFFPUNKT AUTO-SUGGESTION

> eigene Publikationen

> Home