Der Widerspenstigen Zähmung

Wie lerne ich meine Teilpersönlichkeiten kennen und schätzen?

 

In ihrem Artikel über Psychosynthese (Mai 05) hat die Autorin das Modell der Teilpersönlich­keiten vorgestellt. Heute geht es darum, wie wir uns der verschiedenen Teilpersönlichkeiten bewusst werden können, sie kennen lernen und – im besten Fall –integrieren, eben: zähmen können.

(In seinem Modell der Psychosynthese, das er im 20. Jahrhundert entwickelt hat, geht der italie­nische Arzt und Psychiater Roberto Assagioli davon aus, dass wir in uns eine grosse Zahl an Teilpersönlichkeiten haben. Einige davon kennen wir gut, mögen sie mehr oder weniger, andere wollen wir gar nicht kennen, lehnen sie ab und unterdrücken sie und weitere sind verdrängt im Unbewussten. Psychosynthese ist ein transpersonales Modell zur Begleitung von Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und der Entfaltung ihres Potenzials.)

 

Was heisst das: Sich kennen lernen? Im Sinne der Psychosynthese heisst dies unter anderem zu erkennen, dass das Wunder Mensch aus ganz vielen Teilen zusammengesetzt ist, wobei das Ganze grösser ist als die Summe seiner Teile.

 

Meistens funktionieren wir im Alltag, indem wir in bewährter und lange geübter Manier gewisse Teilaspekte von uns leben, die uns bekannt sind. Wir sprechen dabei in der Psychosynthese von Kernpersönlichkeiten. Hierzu gehören die Rollen, die wir in der Familie spielen, sei dies Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Tante etc. Natürlich finden wir hier auch den Berufsmenschen wie z.B. den Sekretär, die Ärztin, den Gartenbauer, die Buschauf­feurin, den Physiotherapeuten, die Geigenbauerin, den Fliessbandarbeiter und so weiter. Auch unsere Freizeitbeschäftigungen haben hier ihren Platz: Die Leseratte, der Sportler, die passio­nierte Kinogängerin, der Autofreak, die Bergsteigerin. Alle diese Rollen sind uns geläufig, wir bewegen uns auf vertrautem Boden. Selten gibt es hier Überraschungen, die Abläufe sind ein­gespielt.

Diese Teile bilden ein gutes Team, jedoch sind da noch MitarbeiterInnen vorhanden, die gerne auch auf die Bühne unseres Lebens treten möchten.

 

Wir kommen somit zur nächsten Ebene. Hier befinden sich die uns zwar bewussten, aber ungeliebten und deshalb unterdrückten Teile unserer Persönlichkeit. Da wir sie ablehnen oder nicht den Mut haben, sie zu leben, sind sie uns nicht vertraut, fühlen sich vielleicht sogar bedrohlich an. Je nach Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind, Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben und der Bereitschaft, uns zu erforschen, sind diese Sei­ten in uns von Mensch zu Mensch verschieden. Wir finden hier vielleicht die Aufsässige, den Ehrgeizigen, die Neidvolle, den Hilfsbedürftigen, die Rassistin, den Nörgler, die Besserwisserin.

 

In der Psychosynthese gehen wir davon aus, dass jede unserer Teilpersönlichkeiten einem Wunsch entspricht; hinter dem Wunsch steht ein Bedürfnis und in ihrem Innersten befindet sich eine reine Qualität, eine gute Absicht. Oft kennen wir diese Teile nur in der Zerrform, wes­wegen wir sie ablehnen. Was könnte denn nun der Wunsch z.B. desjenigen sein, den wir den Ehrgeizigen nennen? Vereinfacht gesagt: Er hat den Wunsch, einen Status in der Gesellschaft zu erreichen, viel Geld zu verdienen, eine wichtige Position einzunehmen, beneidet zu werden. Durch die Art wie er aufgewachsen ist, seine Lebensgeschichte, sein Umfeld, den Druck der Gesellschaft, kann er sich vielleicht nur vorstellen, durch Einsatz von Ellenbogen und Rück­sichtslosigkeit diesen Platz erstrampeln zu können. Und nur wenn er genau diese Position er­reicht, wodurch er abhängig ist vom Aussen, geht sein Wunsch in Erfüllung. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn wir nämlich tiefer gehen, steht hinter dem Wunsch ein Bedürfnis. Dieses könnte sein, gesehen zu werden, für seine Bemühungen anerkannt, ge-ehrt (Ehr-Geiz) zu werden. Hier beginnt die Freiheit. Wenn wir im Wunsch stecken bleiben, können wir nur mit dessen Erfüllung von aussen zufrieden gestellt werden. Wenn wir jedoch das Be­dürfnis dahinter erkennen, wird uns klar, dass wir dieses auch selber stillen können. Indem ich liebevoll annehme, dass ich einen ehrgeizigen Teil habe, kann ich mich ehren für meine Bemü­hungen, kann diesen Teil wertschätzen und lieben lernen. Dadurch komme ich auch der Quali­tät hinter dieser Zerrform auf die Spur; ich werde einen Teil finden, der ganz einfach gute Arbeit abliefern, seine Sache gut machen möchte. Seine gute Absicht ist es, seinem Arbeitgeber zu dienen, ein befriedigendes Resultat abzuliefern. Wenn wir bereit sind, uns mit unseren Teilen auseinander zu setzen, das Bedürfnis und die Qualität hinter dem Wunsch zu erspüren, merken wir auf einmal, dass wir nicht mehr abhängig sind und uns die Anerkennung, die wir vom Aus­sen erwarten, selber geben können. Das Wunder ist: Sobald wir uns die Anerkennung selber geben und dadurch frei werden von der Abhängigkeit, sie von aussen zu bekommen, fliegt sie uns auf einmal zu; wir werden gesehen, haben Ausstrahlung, sind in unserer Kraft und unserem Potenzial. Und wie schon erwähnt gibt es einen wertfreien Ort in uns, das Ich, wo wir immer Anerkennung erfahren, wo wir sein dürfen, wie wir sind, wo alle unsere Bemühungen gesehen werden.

 

Dass wir Teile in uns nicht haben wollen, die in unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Wertesystem negativ behaftet sind, mag ja noch angehen, aber dass wir auch Qualitäten ver­drängen, die wir an anderen bewundern, kann das sein?

 

Nehmen wir als Beispiel Abgrenzung. Es gibt Menschen, die scheinbar problemlos Nein sagen, sich abgrenzen können. Es kann sein, dass ich diese Fähigkeit bewundere, aber sicher bin, dass ich dies nie könnte. Nie könnte? Vielleicht will ich es ganz einfach nicht, weil ich nicht be­reit bin, die Konsequenzen, die dieses Verhalten auch beinhalten kann, zu ertragen (Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wenn ich Nein sage, Angst, den Partner zu verlieren, letztlich Angst vor Einsamkeit). Ich projiziere also eine Fähigkeit, die mir auch zur Verfügung stehen würde, auf andere und bewundere sie dann dafür. Es ist ein interessantes Abenteuer, diese Projektionen zurückzunehmen und auszuprobieren, wozu ich selber fähig bin. Wahrscheinlich wird dies nicht von einem Tag auf den anderen funktionieren; Schritt für Schritt ist Ver­änderung jedoch möglich. Nicht nur wird dies mein Selbstbewusstsein merklich stärken, es macht auch der anderen Person, auf die ich meine Projektionen gerichtet habe, den Umgang mit mir leich­ter. Alles was ich in anderen sehe, ob ich es liebe, bewundere oder verachte – es ist in mir auch vorhanden und will gelebt werden.

 

Etwas schwieriger und wohl langwieriger ist der Prozess des Erkennens unserer unbewussten, verdrängten Teilpersönlichkeiten. Sie befinden sich in der Tiefe unseres Seins, sie können uns so schlimm oder schrecklich erscheinen, dass wir sie nicht ein­mal zu denken wagen. Es sind dies Eigenschaften, positiv oder negativ, die wir auf andere pro­jizieren. "Alle sind immer so gemein zu mir, dabei bin ich so lieb." Und ich merke nicht, dass es meine eigene Wut ist, die ich auf andere projiziere und durch mein Unvermögen oder meine Weigerung, sie in mir zu erkennen und meine Aggressionen konstruktiv auszuleben, vom Aus­sen erfahre.

 

Jede Teilpersönlichkeit hat ein eigenes Verhalten, eine eigene Gefühlswelt, ein eigenes Welt­bild. Jede Rolle, die ich einnehme, ist eine Teilpersönlichkeit (Tochter, Vater, Putzfrau, Sekretär etc.). In jeder Rolle denke, fühle und handle ich anders.

 

Deshalb ist wertfreie Selbstbeobachtung und Wahrnehmungsschulung ein grosser Teil der Ar­beit an sich selbst. Anstatt einen ungeliebten Teil in mir von vornherein abzulehnen, habe ich auch die Möglichkeit, ihn zu begrüssen und mit ihm in Dialog zu treten. Ich kann ihn fragen, was seine Rolle in meinem Leben ist, wie er mir dient, was seine Absicht ist. Ich kann ihn auch fragen, weshalb er so und nicht anders handelt, weshalb er sich z.B. so penetrant in mein Leben drängt. Dadurch wird es mir möglich, seine Qualität zu entdecken. Ich kann ihn zu meinem Verbündeten anstatt zu meinem Feind machen. Er will von mir gesehen werden und sich seinem Wesen gemäss ausdrücken. Er wird mir meine Aufmerksamkeit danken, indem er mir seine wahre (gute) Absicht kund tut und mir dient. Sobald ich ihn ernst nehme, muss er sich auch nicht mehr aufplustern. Er weiss ja, dass ich bereit bin, ihn zu sehen, seine Bemühungen anzuerkennen und ihn im Schauspiel meines Lebens dort einzusetzen, wo er seine Rolle am besten spielen kann.

 

Die Autorin, Frau Santoshi Marti, hat im Zentrum von Bern eine eigene Praxis. Sie ist ausge­bildete Psychosynthese-Therapeutin, Psychologische Astrologin und Körpertherapeutin. Sie arbeitet mit KlientInnen in Einzelsitzungen an deren Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwick­lung und unterstützt sie im Entdecken des eigenen Potenzials. Dazu verwendet sie u.a. Ar­beitsinstrumente wie Gespräch, Prozessarbeit, Imagination, Rollenspiele und Körperarbeit. Ein zentraler Punkt ist die Wahrnehmungsschulung auf den drei Ebenen Körper, Gefühl und Verstand.

Praxistätigkeit seit 1991, laufend eigene Weiterbildung und Supervision. Vorträge über Psycho­synthese.

Zusätzliche spezielle Interessengebiete: Partnerastrologie, Arbeit mit KlientInnen mit Überge­wicht, Ess-Sucht (u.a. mit Methoden der Körperwahrnehmungsschulung, einzeln und in Grup­pen).

Praxis Santoshi Marti: Neuengasse 20, 3011 Bern, 079 537 49 80, praxis@santoshi.ch

 

Publiziert im September 2005

in der Zeitschrift TREFFPUNKT AUTO-SUGGESTION

 

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