Freier Wille – gibt es das?

Von Abhängigkeit zu Selbstbestimmung und Wahlfreiheit

In ihren letzten beiden Artikeln über Psychosynthese (Mai und September 05) hat die Autorin das Modell der Teilpersönlich­keiten vorgestellt und den Nutzen und die Fülle beschrieben, die es uns bringen kann, auch unbekannte oder ungeliebte Teile in uns kennen zu lernen und zu integrieren.

 

 (In seinem Modell der Psychosynthese, das er im 20. Jahrhundert entwickelt hat, geht der italie­nische Arzt und Psychiater Roberto Assagioli davon aus, dass wir in uns eine grosse Zahl an Teilpersönlichkeiten haben. Einige davon kennen wir gut, mögen sie mehr oder weniger, andere wollen wir gar nicht kennen, lehnen sie ab und unterdrücken sie, und weitere sind verdrängt im Unbewussten. Zur Steuerung unserer Teilpersönlichkeiten benötigen wir ein starkes Zentrum, das Ich, die Synthese von Liebe und Wille.

Psychosynthese ist ein transpersonales Modell zur Begleitung von Menschen in ihrer Persön­lichkeitsentwicklung und der Entfaltung ihres Potenzials.)

 

Im Zentrum des Psychosynthese-Modells steht das Ich (nicht zu verwechseln mit dem Ego, das eine Teilpersönlichkeit ist). Assagioli versteht das Ich als einen wertfreien, unzerstörbaren Ort in uns, von welchem aus wir unsere Teilpersönlichkeiten, unser Leben und unsere Handlungen neutral beobachten, leiten und benutzen können. Es ist der Ort, von dem aus wir uns mit der Liebe verbinden, der Ort, wo wir Entscheidungen fällen und unsere Wahlfreiheit spüren und wahrnehmen können. Das Ich im Sinne der Psychosynthese ist ein Ort reiner Bewusstheit, des Willens und der Liebe. Es ist auch ein Ort der Ruhe und der Stille.

 

Indem wir uns von unserem Zentrum aus mit unserem Höheren Selbst (wir können dies auch das Göttliche, das Universum, die Höhere Macht, die Innere Weisheit nennen) verbinden, ste­hen uns die Qualitäten Liebe und Wille zur Verfügung. Die Qualität der Liebe ist lebenswichtig, wir brauchen sie, um erst einmal anzunehmen, was ist, um einfühlsam auf uns und andere ein­gehen zu können. Die Qualität Wille steht uns zur Verfügung, um eine Wahl zu treffen, Ent­scheidungen zu fällen und danach zu handeln, aktiv zu werden.

 

Wie schon früher beschrieben, steht dem Ich ein neutraler Beobachter zur Seite, der "wahr"nimmt, was in uns und unserer Umgebung vor sich geht. Diese neutrale Wahrnehmung bedarf der Übung. Ein gutes, uns allen bekanntes Beispiel ist sicher der frühe Morgen, der Zeit­punkt, zu dem wir uns wieder im Badezimmerspiegel sehen. Wie viele von uns sehen als Erstes unschöne Ringe unter den Augen, Falten im Mundwinkel, die uns alt erscheinen lassen, das bleiche Angesicht und ärgern uns darüber, werten uns schon frühmorgens ab, so ungefähr im Sinne von: "Ich kenne Dich zwar nicht, aber ich rasiere Dich trotzdem." Nicht unbedingt eine liebevolle Begrüssung, oder?

 

Neutrale, wertfreie Beobachtung würde heissen:

Ich schaue in den Spiegel und sehe neben meinem Mundwinkel eine Falte. Punkt.

Ich schaue in den Spiegel und sehe, dass sich unter meinen schwarzen Locken auch einige weisse Haare befinden. Punkt.

Wenn ich mir zulächle, sehe ich eine Reihe blitzweisser Zähne. Punkt.

 

Es ist erstaunlich, wie schwer es uns fällt, einfach nur wahrzunehmen, ohne zu werten. Es lohnt sich, dies zu üben, eine grosse innere Gelassenheit kann sich in uns ausbreiten. Auf einmal muss ich nicht mehr faltenfrei sein. Ob ich die Falten abwerte oder nicht, sie sind genau gleich da. Hier sind wir mit der Qualität Liebe verbunden – liebevolles Annehmen findet statt.

 

Genau das Gleiche läuft natürlich nach aussen ab. Je mehr ich gelernt habe, mich selber und meine Teile einfach wahrzunehmen, desto liebevoller und wertfreier werde ich mit meiner Um­gebung umgehen. Und auch hier das Erstaunliche: Ich brauche es gar nicht auszusprechen, die Menschen in meinem Umfeld werden spüren, dass ich anders mit ihnen umgehe; auch sie kön­nen sich entspannen und brauchen sich und mir nicht mehr so viel zu beweisen. Es macht einen grossen Unterschied, ob ich innerlich denke: "Mensch, was für ein schreckliches Kleid!" oder ob ich einfach hinschaue und sehe: "Diese Frau trägt heute ein geblümtes Kleid." Punkt.

 

Nun kann es jedoch sehr wohl sein, dass einige Dinge, die ich in mir und an meinem Verhalten beobachte, mir nicht dienlich sind für die Ziele, die ich erreichen möchte, für den Platz, den ich in der Gesellschaft einnehmen will. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung. Es ist nicht schlecht oder gut; vielleicht hat sich ein Verhalten bisher bewährt, doch jetzt ist es an der Zeit, etwas daran zu ändern, weil es mir nicht mehr dienlich ist. Vielleicht haben sich die äusse­ren Umstände oder die Situation verändert. Sicher habe ich selber mich weiter entwickelt und lege ein bestimmtes Verhalten nur noch aus Gewohnheit an den Tag, ohne darüber nachzu­denken, ob es noch angebracht ist.

 

Hier benötigen wir nun die Qualität Wille. Wie schon früher beschrieben, hat das Wort Wille in unserer Gesellschaft keine wertfreie Bedeutung – es wird völlig abgelehnt oder verherrlicht. Viele von uns sind noch so erzogen worden: "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg." Das stimmt zwar, Assagioli will uns jedoch damit etwas anderes mitgeben als auf die Zähne zu beissen oder die Hinterbacken zusammenzuklemmen. Dies ist der so genannte viktorianische Wille, der sich auch sehr (selbst-)zerstörerisch auswirken kann. Es ist der Wille, der aus einem "Muss" oder "Sollte" entsteht und nichts mit Wahlfreiheit zu tun hat. Genau so unfrei ist natürlich das Gegenteil davon: Rebellieren um jeden Preis, sich nicht an die Gesellschaft anpassen, sich deren Willen und Gesetzen nicht unterordnen.

Assagioli meint den freien Willen, den Willen, der uns befreit von Abhängigkeit. Es geht darum, mir bewusst zu werden, dass ich den freien Willen jederzeit zur Verfügung habe, er entsteht aus der Wahlfreiheit.

Assagioli unterscheidet verschiedene Aspekte des Willens: den starken, den geschickten, den guten und den transpersonalen Willen, die je nach Situation angewandt werden können. Allen gemeinsam ist die Wahlfreiheit (Literatur: Assagioli, Roberto: Die Schulung des Willens ISBN 3-87387-202-1).

 

Um zum Beginn meines Artikels zurückzukommen: Freier Wille – gibt es das? Ich bin überzeugt und habe in jahrelanger Erfahrung mit Psychosynthese gelernt, dass wir in jedem Moment und in jeder Situation eine Wahlfreiheit haben. Sie ist uns vielleicht nicht jederzeit bewusst. Natürlich sind wir in unserer westlichen Welt und nördlichen Hemisphäre privilegiert und haben in sehr vielen Situationen die Freiheit zu Handeln, was in anderen Gesellschaften nicht der Fall ist. Und doch wird uns gerade in weniger privilegierten Ländern immer wieder vor Augen geführt, dass es auch in Unterdrückung und Elend noch die Wahlmöglichkeit gibt, aus einer bestehenden Situation etwas Gutes zu machen. Natürlich würde es mir nie einfallen, jemandem, der gerade mit einer terminalen Diagnose konfrontiert wurde oder dessen Familie, Hab und Gut durch einen Wirbelsturm zerstört wurde, zu belehren, dass er nun die Wahlfreiheit hat, was er aus der Situation macht. Durch Be­wusst­heit und Schulung des Willens und eine Öffnung gegenüber dem Transpersonalen kann jedoch eine ge­wisse Distanz zum Gesche­hen, Gelassenheit und inne­rer Frieden erreicht werden, die vieles er­leichtern.

 

Es gibt dazu einen berühmten Text von Roberto Assa­gioli. Als sein Institut von den Faschis­ten geschlossen und er als Jude verhaftet wurde, verfasste er seinen Aufsatz "Freiheit im Gefäng­nis", in dem er be­schrieb, dass ihm in­mitten all der Gräuel der Einzelhaft auf ein­mal klar wurde, dass er auch in dieser Situation noch immer eine Wahl hatte. Daraus ein Abschnitt:

"Ich erkannte, dass ich frei war, diese oder eine andere Einstellung gegenüber der Si­tuation ein­zu­neh­men, ihr diesen oder einen anderen Wert zuzu­schreiben, sie zu benutzen oder auch nicht zu benutzen, in der ei­nen oder anderen Weise. Ich konnte mich wi­dersetzen. Ich konnte mich passiv unterwerfen, vege­tie­ren. Oder ich konnte dem unzuträglichen Ver­gnügen des Selbst­mit­leids frönen und die Märtyrerrolle annehmen. Oder ich konnte die Situa­tion mit einem Sinn für Humor an­nehmen, oder ich konnte sie zu einer Liegekur ma­chen, oder ich konnte mich mir selbst für psychologische Ex­perimente zur Verfügung stellen. Oder ich konnte letzt­lich einen spiri­tuellen Rückzug daraus machen – endlich weit weg von der Welt. Da gab es keinen Zweifel in mir – ich war verantwortlich."

(Ganzer Text auf Anfrage bei der Autorin erhältlich.)

 

Wählen tun wir immer, sehr oft unbewusst, und ein Ziel der Psychosyn­these ist es, uns un­sere unbewussten Entscheidungen und die daraus entstandenen Muster und Glaubens­sätze be­wusst zu ma­chen.

 

Die Autorin, Frau Santoshi Marti, hat im Zentrum von Bern eine eigene Praxis. Sie ist ausge­bildete Psychosynthese-Therapeutin, Psychologische Astrologin und Körpertherapeutin. Sie arbeitet mit KlientInnen in Einzelsitzungen an deren Selbsterfahrung und Persönlichkeitsent­wick­lung und unterstützt sie im Entdecken des eigenen Potenzials. Dazu verwendet sie u.a. Ar­beitsinstrumente wie Gespräch, Prozessarbeit, Imagination, Rollenspiele und Körperarbeit. Ein zentraler Punkt ist die Wahrnehmungsschulung auf den drei Ebenen Körper, Gefühl und Verstand.

Praxistätigkeit seit 1991, laufend eigene Weiterbildung und Supervision. Vorträge über Psycho­synthese.

Zusätzliche spezielle Interessengebiete: Partnerastrologie, Arbeit mit KlientInnen mit Überge­wicht, Ess-Sucht (u.a. mit Methoden der Körperwahrnehmungsschulung, einzeln und in Grup­pen).

Praxis Santoshi Marti: Neuengasse 20, 3011 Bern, 079 537 49 80, praxis@santoshi.ch

 

Publiziert im Dezember 2005

in der Zeitschrift TREFFPUNKT AUTO-SUGGESTION

 

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